Einfache Lösungen für 60601-1-konforme Netzteile

Von Jeff Schnabel COO, Same Sky

Die dritte Fassung der Norm ANSI/AAMI ES 60601-1:2005/IEC 60601-1 ist so komplex, vielschichtig und teilweise mehrdeutig und widersprüchlich, dass Entwickler von Stromversorgungen und Systemen ihre ursprünglichen Sinn aus den Augen verlieren. In der neuen Norm 60601 mit all ihren Schutzfunktionen für Bediener und Patienten (MOP) geht es eher um die Klassifizierung von Systemen, um Definitionen und die Sicherheit des Gesamtsystems, als um die Anforderungen an die Designspezifikationen oder die Erhöhung der Leistungsfähigkeit. Die Wahl der richtigen Standardstromversorgung sollte daher nach dem Prinzip der Einfachheit erfolgen, um möglichst die Komplikationen mit Tests, Dokumentationen und die damit verbundenen Kosten zu umgehen und das Design einfach zu gestalten.

Zunächst geht es darum, die teils verwirrende Namensgebung der Normen und deren Auslegungen näher zu betrachten. ANSI steht für das American National Standards Institute, AAMI für Association for the Advancement of Medical Instrumentation. ANSI/AAMI ES 60601-1:2005 ist identisch mit dem weltweit anerkannten IEC 60601-1:2005-Standard, jedoch mit Auslegungen für das nationale Stromnetz der USA, die offiziell in das Register der FDA aufgenommen wurden. In ähnlicher Weise entspricht die Sicherheitsnorm EN 60601-1 der Norm IEC 60601-1:2005 mit europäischer Auslegung, und CSA‐C22.2 NO. 60601‐1:08UL ist die kanadische Variante. Die UL-Zertifizierung basiert auf dem US-orientierten Standard ES 60601-1:2005 und erkennt die internationale Norm IEC 60601-1 an.

Entsprechend den Medical Device Safety Reports (MDSR) vom ECRI-Institut werden Ausfälle medizintechnischer Geräte, die zu Verletzungen oder Todesfällen führen können, in fünf Hauptgruppen unterteilt. Zwei der Gruppen (die gerätebezogenen und externen Faktoren) sind in Unterkategorien aufgeteilt, die sich direkt auf die Stromversorgung beziehen. Bei den gerätebezogenen Faktoren bezieht sich der MDSR auf Softwaremängel, bei den externen Faktoren direkt auf das Netzteil.

Im Rahmen der 60601-1 sind bei Stromversorgungen in der Medizintechnik Softwaremängel von besonderem Interesse. Dies hängt damit zusammen, dass anstelle von analogen Netzteilen immer häufiger digital geregelte Netzteile eingesetzt werden. Entwickler können daher von hohen Testanforderungen ausgehen, mit denen sichergestellt werden soll, dass sowohl das System als auch die Software stabil arbeitet.

Da verschiedene Nutzungs- und Gefahrenszenarien berücksichtigt werden müssen, liegt der Schwerpunkt der dritten Normenfassung auf dem Schutz von Bedienpersonal und Patienten (MOOP, Means of Protection for Operators, MOPP Means of Protection for Patients). Das Bedienpersonal ist in der Regel in direktem Kontakt mit einem System oder seinen Schnittstellen, während ein Patient über Sensoren oder Fühler mit dem Gerät verbunden ist. Für schwer erkrankte Patienten spielt der Leckstrom eine große Rolle. Selbst bei gesunden Menschen kann ein Leckstrom von nur 30 mA bereits zu Atembeschwerden und Kammerflimmern führen.

Bild: Auswirkungen von Leckströmen auf den menschlichen Körper

Abbildung 1: Selbst Leckströme im niedrigen mA-Bereich können gesundheitliche Auswirkungen haben. Deshalb legt die Norm 60601-1 klar definierte Grenzen fest. Entwickler müssen dabei die verschiedenen regionalen Vorschriften beachten. Zum Beispiel sind in Nordamerika niedrigere Grenzwerte (0,3 statt 0,5 mA) festgelegt. Quelle: IAEI Magazine

Leckströme treten praktisch in allen elektrischen und elektronischen Systemen auf. Sie sind definiert als Stromfluss von den Leitern eines Systems zur Masse, entweder direkt über einen ordnungsgemäß geerdeten Leiter oder im Fehlerfall durch direkte oder indirekte Kopplung über andere Elemente im System bzw. über den menschlichen Körper.

Als Ursache für Leckströme bei Netzteilen zählen kapazitive Kopplungen von EMI-Filtern und von der Primär- zur Sekundärwicklung (oder sogar zu benachbarten Schaltkreisen) eines Transformators. In der IEC/EN 60601-1 sind die Grenzwerte für den Leckstrom klar festgelegt: im Normalbetrieb (0,5 mA), für den Fehlerfall 1 (1,0 mA) und für den Entladestrom über Masse und das Gehäuse (0,1 mA bzw. 0,5 mA). Für Nordamerika legt die UL ES 60601-1 entsprechend 0,3 mA (und nicht  0,5 mA) als maximalen Leckstrom fest.

Diese Zahlen beziehen sich auf alle Klassen medizintechnischer Geräte, vom nicht-indirekten Patientenkontakt bis hin zum direkten Kontakt mit dem Herzen. Während also viele Stromversorgungen den eher allgemeinen IEC/EN60950-Richtlinien entsprechen, die in In-Vitro-Diagnosegeräten (IVD) eingesetzt werden und möglicherweise gar nicht mit Patienten in Berührung kommen, treffen auch hier die 60601-1-Leckstromgrenzwerte zu.

Hier wird die dritte Fassung heikel, da sie das Konzept einer formalen Risikobewertung nach ISO 14971 einführt. Damit liegt es in der Entscheidung des Herstellers – und in seiner Verantwortung – ob ein Patient möglicherweise mit dem Gerät in Berührung kommt oder nicht. Wenn festgestellt wird, dass ein Kontakt auftreten kann, muss das System gegebenenfalls die gesamte 60601-1-Qualifizierung durchlaufen, die in der Regel für Geräte zur Herz-/Kreislaufüberwachung und Blutanalyse, Pumpen, Beatmungsgeräte und Defibrillatoren vorgesehen ist.

Die Norm IEC/EN/ES60601-1 bürdet dem Hersteller die Beweislast auf. Dieser muss eine Risikobewertung vornehmen, um nachzuweisen, dass das Restrisiko akzeptabel ist. Die ISO 14971 unterstützt dies durch einen vorgegebenen Risikomanagementprozess, in dem erkennbare Fehler aufgelistet sind und bewertet werden müssen.

Schutz für Bedienpersonal oder Patienten?

Die 60601-1 scheint sich stärker auf den Entwicklungsprozess und das Risikomanagement als auf das Design selbst zu beziehen. Hier gibt es aber sehr klare Richtlinien, die sogar Schutzmaßnahmen für verschiedene Situationen vorschreiben.

Eine Schutzmaßnahme kann ein Schutzleiter sein, der speziell dazu ausgelegt ist, vor einem Stromschlag zu schützen. Dabei kann es sich um einen FI-Schutzschalter, Isolator, Luftspalt, eine definierte Kriechstrecke (den kürzesten Abstand zwischen zwei leitfähigen Pfaden, oder einem leitfähigen Pfad und einem leitfähigen Gehäuse) oder eine hochohmige Isolationsbarriere zwischen Eingang und Ausgang handeln.

In der zweiten und dritten Fassung sind jeweils zwei Schutzmöglichkeiten definiert. Da Bedienpersonal und Patienten jedoch verschiedene Risikoszenarien aufweisen, geht die dritte Fassung der IEC/EN/ES 60601-1 noch weiter, indem bei Trennung (Isolation), Kriechstrecke und Isolation zwischen Bediener- (MOOP) und Patientenschutz (MOPP) unterschieden wird.

Anforderungen der dritten Fassung nach Klassifikation
Klassifikation Isolierung Kriechstrecke Isolationstyp
1x MOOP 1500 VAC 2,5 mm Einfach
2x MOOP 3000 VAC 5 mm Doppelt
1x MOPP 1500 VAC 4 mm Einfach
2x MOPP 4000 VAC 8 mm Doppelt

Abbildung 2: Die dritte Fassung der IEC/EN/ES 60601-1 definiert verschiedene Schutzgrade für Bedienpersonal (MOOP) und Patienten (MOPP). Langfristig kann es kostengünstiger und effizienter sein, sich für den höchsten Schutzgrad zu entscheiden.

Ein einfacher MOOP- und MOPP-Schutz kann mit der Standardisolierung eingehalten werden. Die Isolationsprüfung für einen doppelten MOPP ist allerdings mit 4000 VAC und einer doppelten Kriechstrecke von 8 mm wesentlich anspruchsvoller als der für einen einfachen MOPP. Auch die Spannungsfestigkeitstests sind unter IEC/EN/ES 60601-1 strenger als in der allgemeinen Industrienorm IEC/EN 60950.

Isolationstyp IEC/EN 60601-1 IEC-EN 60950
Basisisolierung 1500 V 1500 V
Komplettisolierung 2500 V 1500 V
Doppelte oder verstärkte Isolierung 4000 V 3000 V

Abbildung 3: Während sich IEC/EN 60950-konforme Netzteile für viele medizintechnische Anwendungen eignen, erfordern vollständig IEC/EN/ES 60601-1-konforme Geräte wesentlich anspruchsvollere Spannungsfestigkeitstests.

Prinzip der Einfachheit

Die geschilderte Komplexität und die damit verbundenen Unklarheiten bezüglich der einzuhaltenden Vorschriften legen es nahe, bei der Auswahl der Stromversorgung das Prinzip der Einfachheit anzuwenden. Dies gilt umso mehr, wenn Kostenvorteile zu erwarten sind.

Möglicherweise ist es kostengünstiger, ein Netzteil für ein IVD-Gerät zu wählen, das sich für medizinische Anwendungen eignet, da es den Schutz nach 60950 bietet. Oder man entscheidet sich für ein 60950-konformes Gerät und fügt später 1x- oder 2x-MOOP oder MOPP hinzu. Aus zwei Gründen erweist sich das aber eher als kontraproduktiv.

Erstens müssen alle Unterlagen bereitgestellt und Prozesse durchlaufen werden, die eine formale Risikobewertung abdecken, um nachzuweisen, dass das Restrisiko akzeptabel ist. Dies kann sehr zeitaufwändig sein. Zweitens muss Lagerhaltung und die damit verbundenen Kosten mit berücksichtigt werden.

Die relativ geringen Mehrkosten für ein vollständig IEC/EN/ES 60601-1-konformes Netzteil mit doppeltem MOPP-Schutz zahlen sich langfristig aus:

  • Der Aufwand für das Systemdesign ist geringer.
  • Die Vorschriften können leichter eingehalten werden.
  • Die Lagerhaltungskosten sind geringer.

Wenn sich der Entwickler für ein vollständig konformes Netzteil mit 2x-MOPP entscheidet, erhält er ein zukunftssicheres System, und die Kosten für Lagerhaltung und Dokumentation sinken, da das Netzteil oder die Serie von Netzteilen in fast jedes medizintechnische Gerät verbaut werden kann.

Da Stromversorgungen generell günstiger werden, ist die Investition in ein Netzteil, dass die 2x-MOPP-Anforderungen erfüllt, von Vorteil. Natürlich muss dies jeweils im Einzelfall überprüft werden.

Ein Beispiel für IEC/EN/ES 60601-1 2x-MOPP-konforme AC/DC-Netzteile sind die Open-Frame-Modelle der VMS-365-Serie von CUI. Sie entsprechen den UL-Anforderungen mit einem Leckstrom von 0,3 mA sowie AC0,110 und 0,275 mA bei den Prüfspannungen 120 bzw. 230 VAC/60 Hz.

Bild: VMS-365-Serie der Open-Frame-Netzteile von CUI

Abbildung 4: Die VMS-365-Serie der Open-Frame-Netzteile von CUI erfüllt die Anforderungen nach IEC/EN/ES 60601-1.

Weitere Merkmale sind ein Ausgang für 12 bis 48 V, der Standard-Footprint von 7,6 cm x 12,7 cm, ein Wirkungsgrad von 90 Prozent, ein Universaleingang für 85 bis 264 VAV und eine kontinuierliche Ausgangsleistung bis zu 365 W. Die Open-Frame-VMS-Serie reicht von 20 bis 365 W.

Für externe Anwendungen bietet CUI 2x-MOPP-Netzteile mit einer Ausgangsleistung von 15 bis 250 W sowie das Tischnetzteil ETMA 60 W nach IEC/EN/ES 60601-1 an. Es erfüllt die Umweltstandards von CUI und hat einen Wirkungsgrad nach Stufe 5. Außerdem erfüllt es die derzeitigen Richtlinien nach US EISA 2007 und die ErP-Richtlinie vom April 2011. 

Das gesamte Spektrum der 2x-MOPP-Netzteile von CUI für medizinische Geräte finden Sie hier.
 

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